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Ode an die Neugier

Sie macht klüger, resilienter und beweglicher, sie ist der Katalysator des Fortschritts und die Gegenspielerin von Stress – und auch ein unterschätzter Karriere-Faktor: ein Loblied auf die Neugier.

Neugier Frau mit Fernglas

Neugier kann wehtun. Zum Beispiel, wenn wir uns in ihrem Auftrag Stromschläge verpassen. Das taten nämlich Teilnehmende einer Studie, als sie im Raum allein gelassen wurden, was für die menschliche Spezies ohnehin riskant ist. In ihrer Sichtweite wurden Stifte platziert, die vielleicht beim Klicken einen Stromschlag abgeben würden – vielleicht aber auch nicht. Natürlich griffen die Probanden trotz dieser Warnung direkt zu: Stromschlag hin oder her, aber das Rätsel um die Stifte mussten sie einfach lösen.  

Uns darf also nicht wundern, dass Neugier lange als etwas Diabolisches galt. Die alten Griechen verewigten ihre Neugier-Skepsis in der Gestalt von Pandora. Entgegen ausdrücklicher Warnung – so fangen viele interessante Geschichten an – öffnete sie ihre geheimnisvolle Büchse und entließ damit allerlei Unheil in die Welt, die bis dahin weder Tod noch Krankheiten gekannt hatte. Auch Adam und Eva wurden für ihre Neugier sehr unsanft aus dem Paradies geschmissen, auch sie konnten es trotz Warnung nicht lassen, nach Erkenntnis zu dürsten.   

Der neugierige Mensch sei zur ewigen Unzufriedenheit verdammt, befand auch Augustinus. In einer Welt ohne Antibiotika, Menschenrechte oder entwickelter Unfallchirurgie war seine Message „Steck Deine Nase nicht in die Dinge, die Dich nichts angehen“ manchmal durchaus angebracht. Und es ist wahr: Aus reiner Neugier probieren wir Substanzen aus, die uns auf dumme Gedanken bringen, gehen Affären ein oder öffnen Videos, die von niemandem geöffnet werden sollten. Neugier hat zwar selbstfahrende Autos hervorgebracht – aber auch die Atombombe.  

Dass die Neugier unzufrieden macht, hat die Wissenschaft allerdings bisher nicht bestätigen können. Im Gegenteil: Die Neugierde belebt. Nicht umsonst wird sie auch Wissensdurst genannt. Neugier liegt uns im Blut: Das menschliche Gehirn schüttet Belohnungsstoffe aus, wenn wir unsere Neugier befriedigen.  

Studien zeigen zudem, dass Lebenszufriedenheit und Neugier positiv korrelieren. Außerdem gibt es einen Zusammenhang zwischen Bewegung, Zufriedenheit und Neugier. Wir sind neugieriger, wenn wir glücklich sind und uns mehr bewegen und weniger neugierig und aktiv an den Tagen, an denen wir eher depressiver Stimmung sind. 

Vermutlich bedingen sich diese Faktoren gegenseitig. Wer neugierig ist, setzt sich öfter in Bewegung, was weniger depressiv macht. Wer weniger depressiv ist, hat es wiederum leichter, sich in Bewegung zu setzen – und ist eher fähig, Neugier überhaupt zu empfinden. Übrigens kommen die selbst nach allgemeinem Konsens eher eindimensionale Wesen wie Rundwürmer trotz Dauerhunger erstmal in Bewegung, um ihre Umgebung zu erkunden, selbst wenn ihre Mahlzeiten direkt vor der Nase liegen (haben Würmer eigentlich Nasen? *). Sprich: Der Wunsch nach mehr Informationen – die Neugier – bringt sie in Bewegung. 

Was ist eigentlich Neugier? ​

Der Duden definiert Neugier schlicht als den Wunsch, etwas zu erfahren und „in Bereiche und Angelegenheiten einzudringen, die besonders andere Menschen und deren Privatleben betreffen.“ Das kann natürlich auch heißen, sich geistig von TikTok-Videos und Promi-Klatsch zu ernähren und sich bei den Nachbarn zu erkundigen, warum sie denn immer noch keine Kinder haben.   

In der psychologischen Forschung wird Neugier jedoch breiter verstanden, zum Beispiel als die Neigung, neue, komplexe und herausfordernde Interaktionen mit der Welt zu suchen. Wenn wir unserer Neugier nachgehen, öffnen wir uns, machen neue Erfahrungen, suchen Kontakt mit den Wundern der Welt. Eine Verwandte der Neugier ist das Staunen: Warum ist der Himmel blau? Warum sind Blumen so bunt? Und wie sieht die Erde aus dem All aus? Wer öfter über die Welt staunt, hat weniger Lust, rücksichtslosen Raubbau an ihr zu betreiben.

Neugier macht resilient

Die Neugier macht es uns leichter, neue Informationen aufzunehmen, was vermutlich erklärt, warum Neugier für den Studienerfolg entscheidender ist als der IQ, wie eine Studie gezeigt hat. Neugierige Menschen knüpfen schneller Kontakte, haben ein stabileres soziales Netz und bessere, persönlichere Beziehungen. Wie viele Paare hätten sich ohne Neugier niemals gefunden? Eine Langzeitstudie mit 2000 Senior:innen zwischen 60 und 86 Jahren fand zudem heraus, dass neugierige Menschen im Schnitt deutlich länger leben, unabhängig davon, ob sie zum Beispiel rauchen oder sich gesund ernähren.     

Wer seiner Neugier nachgeht, erwirbt Kompetenzen – was auf Dauer zu Expertise führt. Das stärkt die Persönlichkeit und hilft, schwierige Situationen und Unsicherheiten besser auszuhalten, sprich: macht resilienter. Durch Neugier wachsen wir.   

Zudem treibt Neugier uns dazu, unseren Fokus nach außen, in die Welt zu richten, statt auf uns selbst. Und die Forschung, speziell im metakognitiven Bereich, zeigt ganz klar, dass unserer Psyche genau das guttut. Wenn wir weniger um unsere Probleme und Unzulänglichkeiten kreisen, geht’s uns psychisch besser. Neugier hilft.    

Sie lässt uns auch besser streiten. Wie erfrischend, mit einer neugierigen Person zu debattieren, die sich von guten Argumenten gern überzeugen lässt. Wenn wir neugierig sind, geraten wir nicht so schnell in die Defensive und können Kritik besser aushalten. So können Konflikte tatsächlich näherbringen, anstatt zu spalten. Neugier ist auch ein starkes Gegengift für die menschliche Tendenz, nur diejenigen Informationen wahrzunehmen, die die eigene Weltsicht bestätigen: den Confirmation Bias. Wenn wir neugierig sind, hinterfragen wir häufiger Klischees und Vorurteile, und schauen öfter mal aus der eigenen Bubble heraus. So geraten wir nicht so schnell in Denkfallen und treffen naturgemäß bessere Entscheidungen.

Neugier ist ein Karrierefaktor

Das Ganze gilt natürlich genauso für die Arbeitswelt: Wer neugierig ist, bleibt beweglich, passt sich Unsicherheiten und Marktschwankungen besser an. Neugierige Mitarbeitende fragen öfter nach, was im Job ein großer Vorteil ist. Sie kommen besser in schwierigen Situationen klar und lassen sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen.  

Studien zeigen sogar, dass Neugier mit besserer Leistung im Job einhergeht. Führungskräfte, die sich offen und neugierig zeigen, statt sich hinter Erfahrung, Kompetenz und Posten abzuschotten, gewinnen eher das Vertrauen ihrer Mitarbeitenden und können sie stärker motivieren. Sie wirken menschlicher und nahbarer, was für einen besseren Austausch sorgt.   

Deshalb findet die Neugier auch in der Arbeitswelt langsam, aber sicher ihren Platz. Unternehmen wie Google wissen: Neugier ist ein Business-Faktor. Sie filtern in Bewerbungsgesprächen explizit nach neugierigen Menschen, auch indem sie zum Beispiel kryptische Stellenanzeigen schalten, oder räumen den Mitarbeitenden freie Zeit für ihre eigenen Interessen ein. Fehlerkultur ist das Buzzword der Stunde. Wer unbequeme Fragen zulässt und den Mitarbeitenden auch die Zeit einräumt, ihnen nachzugehen, fördert Kreativität – und Innovationen.  

Die Forschung zeigt auch, dass Unternehmen besser performen, wenn sie ihre Ziele eben nicht um Performance formulieren – sondern als Lernziele. Menschen lernen gern, das ist ein starker Motivator. Harte Zahlenvorgaben sorgen hingegen für Stress. Das zeigte unter anderem eine Studie der U.S. Air Force. Das Ziel, soundsoviele Flugzeuge in der gegebenen Zeit zu landen, verschlechterte ihre Performance. Wenn sich die Unternehmensziele nicht um harte Zahlen drehen, sondern darum, zu lernen und besser zu werden, wächst die Motivation – und dann auch die Umsätze.

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