Laut Umfragen ist die Arbeit der größte Stressfaktor bei den meisten Menschen. Bei der Arbeit stresst uns am meisten: zu viel Arbeit, zu viel Termindruck und Unterbrechungen. Überspitzt gefragt: Wie viel kann BGM denn überhaupt ausrichten – besteht die Gefahr, dass man lediglich an Symptomen herumdoktert?
Das stimmt: Wenn man das Thema nicht ganzheitlich betrachtet, bleibt BGM Makulatur. Ich habe ein breites Verständnis von BGM – es geht darum, sämtliche Strukturen und Prozesse gesundheitsförderlich zu gestalten. Das ist natürlich ein hoher Anspruch. Dann sollte jeder Akteur dieses Thema mitdenken, sodass wir auch bei großen Organisationsprojekten immer dabei sein müssten. Soweit sind wir noch nicht, aber es bewegt sich bereits in die Richtung. Die psychische Gesundheit wird inzwischen ja auch im Arbeitsschutz und bei den Berufsgenossenschaften bedacht. Wenn die Arbeitsbedingungen durch Zeitdruck geprägt sind, können wir natürlich nicht hingehen und lediglich ein Zeit-Management-Seminar anbieten, das wäre ja Zynismus.
Wie kann man also besser entgegensteuern?
Da finde ich die Gefährdungsbeurteilung sehr wichtig, auch um mit der Führung ins Gespräch zu gehen. Das haben wir im letzten Jahr gemacht, nun müssen wir in eine Nachhaltigkeit kommen. Außerdem wollen wir zielgerichteter und öfter Befragungen durchführen. Bei großen Projekten holen wir immer Mitarbeiter-Input, fragen auch ihr Wohlbefinden und die Arbeitszufriedenheit ab. Wir lassen uns auch von einer Krankenkasse einen Gesundheitsbericht erstellen. Aber viele Dinge erfährt man nur, wenn man die Menschen fragt.
Es heißt, betriebliches Gesundheitsmanagement ist ein Wettbewerbsvorteil für Unternehmen: Ist es tatsächlich so?
Das sehen wir in Bewerbungsgesprächen: Es ist inzwischen Standard, dass nach Angeboten im Bereich Gesundheit und Work-Life-Balance gefragt wird. Die Erwartungen der neuen Generationen haben sich stark verändert und denen müssen wir entsprechen – sonst bekommen wir die Leute nicht.
Braucht BGM eine Strategie oder können kleine Maßnahmen schon viel helfen?
Kommt auf die Ziele an. Will man die Arbeitgeber-Attraktivität steigern? Dann macht man vielleicht etwas Klassisches wie Obstkorb oder Jobrad. Oder gibt’s tatsächlich ein Problem mit Fehlzeiten, Fachkräftemangel, einem hohen Altersdurchschnitt? Es ist ein Unterschied, ob ich einen Rückenkurs anbiete und im nächsten Jahr einen Ernährungsworkshop – oder ob ich wirklich Gesundheitsmanagement mache. Management ist immer mit Strategie verbunden.
Wie ist es bei Ihnen im Unternehmen?
Wir haben eine Vision und tragen zur Konzernstrategie bei, wir wollen die Mitarbeiter:innen beim Erhalt der Gesundheit und Leistungsfähigkeit unterstützen – mit allem, was dazugehört, auch in Sachen Arbeitszufriedenheit. Wir berichten der Geschäftsführung und werten Kennzahlen aus – die Altersstruktur, den Gesundheitszustand, die Fehlzeiten.
Sie waren 13 Jahre lang Personalreferentin – was hat Sie zum Thema Gesundheitsmanagement geführt?
Als Personalreferentin habe ich gesehen, dass die Mitarbeitenden mit vielen Belastungen zu tun, aber keine systematische Unterstützung hatten – damals waren Gesundheitsangebote nicht so en vogue. Dann habe ich mich mit dem Thema Eingliederungsmanagement beschäftigt und da sind wir schnell beim Thema Prävention und Gesundheitsförderung. So bin ich im Prinzip reingerutscht.
Hat sich seitdem in puncto BGM viel getan?
Ja, das Bewusstsein ist viel größer geworden. Das geht natürlich mit bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungen einher: Der demographische Wandel, hoher Altersdurchschnitt, Verschiebung des Rentenalters, hohe Fehlzeiten und damit steigende Kosten. Zudem erleben wir eine neue Belastung durch Digitalisierung und ständige Veränderungen. Die Frage ist, wie können wir Fachkräfte gewinnen, gesund halten und dabei unterstützen, bis zum Ende ihrer Karriere leistungsfähig zu sein? Durch Corona ist das Thema Gesundheit noch stärker in den Fokus gerückt, weil es exemplarisch vor Augen geführt hat, dass Unternehmen ohne gesunde Mitarbeitende nun mal einfach nicht funktionieren.
Wie hat sich mit Corona ansonsten der BGM-Prozess bei Ihnen verändert?
Wir haben wie alle auf Online-Angebote umgestellt. Natürlich ist in der Gesundheitsförderung weniger gelaufen als sonst, wir haben uns auf wichtige Dinge fokussiert: Ein Angebot für die Führungskräfte zum remote führen oder für Homeoffice-Mitarbeitende – wie sie sich strukturieren und sich abgrenzen können, welche Übungen es gibt. Im betrieblichen Eingliederungsmanagement war auch keine Präsenz möglich, aber die Umstellung hat total gut funktioniert. Das ist sogar viel effizienter geworden: Wir führen die Erstgespräche nun am Telefon, was für viele eine große Entlastung ist. In der Gesundheitsförderung richten wir unsere Strategie gerade neu auf das Thema Arbeitswelt 4.0 aus und überlegen, was wir da in der Prävention ändern müssen.
Wird BGM generell digitaler?
Ja, den Trend gab es vorher schon, durch die Pandemie hat das nochmal einen Schub gekriegt. Viele wollen sich aber auch wieder in Präsenz mit den Kolleg:innen treffen – ich denke, beides wird sich etablieren. Die Menschen wollen unterschiedlich abgeholt werden: Manche wollen Präsenz, andere machen es lieber allein. Wir glauben auch nicht, dass alle Menschen komplett zurück ins Büro gehen, eher dass immer mehr hybrid arbeiten.
Wie stellt man sicher, dass digitale Angebote nicht zu einer zusätzlichen Belastung werden?
Tatsächlich sind wir noch dabei, das herauszufinden. Wir haben zum Beispiel eine virtuelle Kantine – die wird nicht gut besucht. Der Führungskräfte-Austausch zum Remote führen wurde hingegen sehr gut angenommen, genau wie ein Yoga-Kurs, der schnell auf Zoom umgestellt wurde. Oft ist es besser, den Menschen etwas an die Hand zu geben, bei dem sie nicht vor dem Bildschirm sitzen müssen, sondern das sie eigenverantwortlich machen können.
Welche Herausforderungen gibt es noch?
Die Menschen zu erreichen, die nicht am PC arbeiten – Monteure, die Mitarbeitenden im Fahrdienst und in der Versorgung. Das sind meist ältere Beschäftigte, die körperlich arbeiten, bei denen schwere oder chronische Erkrankungen auftreten. Wir haben eine App, aber oft ist diese Gruppe gar nicht so viel digital unterwegs. Über die Führung heranzukommen ist da eigentlich der beste Zugang. Wir treiben gerade auch das Fehlzeitenmanagement voran und wollen die Führungskräfte sensibilisieren, was sie zur Gesundheit der Mitarbeitenden beitragen können, wie sie das Gespräch suchen sollen und was sie an Unterstützung anbieten können.
Wirkt sich die Führung denn tatsächlich stark auf die Gesundheit aus?
Ja, auf jeden Fall, insbesondere die direkte Führungskraft hat großen Einfluss. Da gibt es die berühmte VW-Studie, in der zwei Führungskräfte ausgetauscht wurden: Die erste aus einem Bereich mit hohen Fehlzeiten und die zweite mit niedrigen. Nach einer Weile passen sich die Fehlzeiten an. Da sieht man, welchen Einfluss die Führung hat. Es gibt eben gesundheitsfördernde Bedingungen, die auch die Motivation steigern: Ich habe gewisse Freiräume, ich sehe einen Sinn in meiner Arbeit und weiß, dass sie geschätzt wird. Dazu gehört eben auch: Meine Führungskraft lässt mich machen und vertraut mir.
Worauf kommt es bei gesunder Führung an?
Vor vielen Jahren habe ich noch gehört: „Die Leute wollen sowieso nicht arbeiten, die muss man antreiben.“ Das stimmt einfach nicht. Der Mensch an sich hat das Bedürfnis, etwas Nützliches und Sinnvolles zu tun und gebraucht zu werden. Anerkennung und Wertschätzung sind deshalb wesentlich: Wenn mir auffällt, dass jemand viel fehlt, zu spät kommt, sich zurückzieht, wie es vorher nie der Fall war – diese Person wertschätzend darauf anzusprechen. Es ist natürlich nicht einfach: Was darf ich fragen, darf ich überhaupt bestimmte Themen ansprechen? Aber da helfen Schulungen. „Mir ist das und das aufgefallen, wie geht es dir, ich mache mir Sorgen“ – das geht immer.
Die Führung kann auch vieles falsch machen.
Ja, auch ganz praktisch: Wir können noch so viele tolle BGM-Angebote machen, wenn die Führungskraft sagt, das ist alles Quatsch, geh’ da nicht hin – dann gehen die Leute auch nicht hin.
Konzern oder Startup: Macht die Unternehmensgröße einen Unterschied für BGM?
Meine Erfahrung ist: Je kleiner das Unternehmen, desto einfacher, alles auf einen Blick zu erfassen. Und es braucht weniger Ressourcen.
Gibt es bestimmte Voraussetzungen, damit das BGM zum Unternehmenserfolg beiträgt?
Es darf nicht nur ein Aushängeschild sein. Es ist wichtig zu prüfen, welche Maßnahmen tatsächlich wirksam sind. Ein Obstkorb reicht da eben nicht. Dafür braucht es das Commitment der Unternehmensführung und auch ein wenig Ressourcen – irgendjemand muss sich darum kümmern und die Fäden zusammenhalten.
Wie misst man am besten die Wirksamkeit von BGM?
Natürlich sind der Altersdurchschnitt, die Unfallzahlen und die Fehlzeiten-Quote immer ein Thema, aber Ausfälle hängen nicht nur von der Gesundheit ab, sondern auch von der Arbeitszufriedenheit. Aus der Arbeitswissenschaft wissen wir, dass Beteiligung eine große Rolle spielt und viel zur Mitarbeiterzufriedenheit beiträgt – das Gefühl haben, dass die eigenen Ideen gefragt sind. Die Frage ist, was gibt’s da für Möglichkeiten. Gerade arbeiten wir an einer Plattform für Ideenmanagement.
Über die Arbeitszufriedenheit haben wir bereits gesprochen: Wertschätzung und Anerkennung sind wichtig. Haben Sie noch einen Tipp?
Das Thema Lebenslanges Lernen – nicht alle wollen das, manche wollen sich auch gerne mal ausruhen. Nur: Das funktioniert ja nicht. Wir müssen mit der Zeit gehen und mit den neuen Technologien umgehen können. Zu Anfang der Pandemie haben wir auf Microsoft Teams umgestellt und die, die das gut konnten, haben kleine digitale Schulungen angeboten. Das ist total gut angekommen. Da muss man auch aushalten, dass nicht alle direkt Hurra schreien. Aber anders geht’s nicht, sonst werden die Menschen frustriert, steigen mental aus und bleiben beim nächsten schlechten Tag eben lieber zuhause.
Stichpunkt mit kleinen Dingen viel erreichen.
Ja, so geht es eben auch. Das Wichtigste ist eben die Haltung – und die kostet keinen müden Euro.