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Burnout: „Wie ein Handy-Akku, der komplett entladen wurde“

Fehltage wegen Burnout, Ängsten und Depressionen steigen kontinuierlich. Dr. Oliver Korn therapiert unter anderem Burnout-Patienten. Er erklärt, wie wir Erschöpfung erkennen – und eingreifen, bevor sie uns krank macht.

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Du behandelst unter anderem Patienten mit Burnout – wie äußert er sich eigentlich?

Wenn Menschen lange über ihre Grenzen gehen, dann signalisiert der Körper irgendwann deutlich, dass es so nicht weitergehen kann. Manche Betroffene erzählen, wie sie sich eines Morgens gewundert haben, dass sie noch nicht einmal mehr einen Fuß unter der Decke hervorheben konnten. Sie waren einfach total platt. Wie ein Handy-Akku, der komplett entladen wurde. Diese Menschen brauchen in der Folge mehr Ruhe und Freizeit, sie müssen eine ganze Weile lang ständig Pausen einbauen, ob sie wollen oder nicht.

Burnout ist eine anerkannte Diagnose, auch wenn er nach wie vor nicht als Krankheit gilt. Wodurch wird er ausgelöst? 

Als ich noch in der Uniklinik Lübeck gearbeitet habe, haben viele Kolleg:innen die Meinung vertreten, es gäbe kein Burnout – das sei eine Depression. Erst in der Praxis habe ich gemerkt: Burnout gibt es doch, das ist ein eigenständiges Phänomen. Ich persönlich glaube, das ist ein Überlastungsproblem der heutigen Zeit.

Das heißt? 

Wir müssen immer mehr Rollen gerecht werden, immer mehr Felder beackern – der Mann muss neben dem Job beispielsweise auch ein Vorzeige-Papa sein und die Frau nicht nur eine Mama, sondern auch Karrierefrau. Das ist nicht per se schlecht, aber kostet oft viel Kraft. Heute müssen meist beide Elternteile arbeiten, um einen normalen Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Und wenn es nicht klappt, dann geben wir dem Einzelnen die Schuld, der nicht gut, nicht stark genug gewesen ist, es nicht gepackt hat. Und das alles unter Arbeitsbedingungen, die sich auch stark verändert haben – das merke ich sowohl als Trainer als auch in der Praxis.

Inwiefern?

Ich habe zum Beispiel eine ganz alte Dame in der Praxis, die sich immer um ihre Tochter sorgt. Diese ist Anfang 50, hat eine halbe Stelle, arbeitet aber de facto Vollzeit. Und die Firma sagt deutlich: „Entweder Sie machen so weiter oder wir stellen jemand Neues an. Dann wünschen wir ihnen aber viel Glück, in ihrem Alter noch eine neue Stelle zu finden.“ Als Trainer höre ich zudem immer wieder: „Wir waren früher 20 Mitarbeiter, jetzt sind wir zehn, aber haben doppelt so viel zu tun.“ Und es scheint sogar Arbeitsplätze in Firmen zu geben, auf denen niemand länger als ein Jahr bleibt. Da entsteht der Eindruck, dass Mitarbeiter – häufig Berufsanfänger – systematisch „verheizt“ werden, nach einem Dreivierteljahr gehen sie und sind völlig entkräftet.

Sprich: Die Belastung steigt. Dafür sprechen auch die steigenden Ausfälle wegen Burnout, Depressionen und Ängsten.

Natürlich steht da immer die Frage im Raum, ob Belastungen tatsächlich zunehmen oder die Menschen wehleidiger geworden sind. Ging es ihnen nach dem Krieg tatsächlich besser als jetzt? Ich bin diesbezüglich kein Experte, aber es ist ein bekanntes Phänomen, dass in Kriegszeiten die Suizidraten sinken. Die Menschen scheinen dann aufs Überleben fokussiert zu sein. Ich verstehe jeden, der sagt, dass er die heutige Zeit belastend findet. Morgens aus dem Haus und lange arbeiten, nachmittags noch für die Kinder, den Haushalt oder die eigenen mittlerweile kranken Eltern da sein, am Abend „wartet“ noch die Partnerschaft und dann gibt es ja auch noch das Bedürfnis nach Kontakt zu Freunden oder den Wunsch nach Freizeitaktivitäten. Um alles unter einen Hut zu kriegen, reichen Kraft und Zeit häufig nicht.

Aber passen wir Menschen uns nicht auch gut an? 

Ein ärztlicher Kollege hat ein Buch über Stressmedizin veröffentlicht, in dem er genau dieser Frage nachgeht. Die Menschheit hat ihre Lebensumwelt in den letzten 100, 200 Jahren wahnsinnig verändert. Die Welt ist praktisch nicht wieder zu erkennen. Die biologische Anpassung des Menschen erfolgt jedoch langsam, nämlich von Generation zu Generation nach evolutionären Gesetzen. Der besagte Kollege schreibt: Um an die heutigen Lebensbedingungen gut angepasst zu sein, bräuchte die Evolution noch ungefähr 10 000 Jahre. Ich finde, das sagt alles.

„Generell sind Menschen ziemlich robust.“

Dennoch bekommen manche bei konstanter Belastung einen Burnout und andere eben nicht. Woran liegt das?

Hier landen wir in der Stress-Debatte: Ist Stress gesund oder macht er uns krank? Sport ist streng genommen ja auch Stress für den Körper, ist aber in der Regel gut für unsere Gesundheit. Die Stressreaktion des Körpers allein reicht also als Erklärung nicht aus. Es scheint auf andere Faktoren anzukommen, zum Beispiel ob ich mich überfordert fühle oder resigniere – oder in einer belastenden Situation Sinn und Kontrolle erleben kann. Generell sind Menschen eigentlich ziemlich robust. Sie sind in der Lage über Jahre eine relativ hohe Belastung zu ertragen. Und das ist auch wichtig für uns, wenn wir zum Beispiel einen schwer kranken Angehörigen pflegen oder selbst krank sind oder eine Krise auf der Arbeit durchstehen müssen. Das kann auch über Jahre gut gehen – aber irgendwann muss auch diese Belastung aufhören. Das Problem ist: Viele merken jahrelang nicht, dass da etwas falsch läuft. 

Warum nicht? 

Es ist Normalität für sie. Sie sagen: Mein Papa hatte auch zwei Jobs, das ist doch normal, 60 Stunden zu arbeiten. Oder: Meine Eltern waren auch immer ängstlich und besorgt, ich mache das auch so, ist das etwa falsch? Menschen wachsen in Bedingungen rein. Die junge Generation scheint es zum Beispiel normal zu finden, Freunde nur noch über den Bildschirm zu treffen. 

Was hilft denn bei konstantem Stress? 

Ich persönlich glaube: Ein wesentlicher Aspekt ist, wenn ich mir mit dem, was ich tue, abends gut in die Augen schauen kann. Wenn ich also meine Tätigkeiten als wichtig und sinnvoll erlebe. Das kann schützen. Dennoch muss man auf seine Grenzen achten. Wenn Menschen konstant in einer Überlastung leben, ist das wie eine tickende Zeitbombe. 

Welche Rolle spielen Aufmerksamkeitsprozesse bei der Stressprävention? 

Eine gravierende Rolle, wie es scheint. Wenn Menschen psychisch übermäßig leiden, finden wir immer eine stark nach innen gerichtete Aufmerksamkeit. Wenn ich in einer schwierigen Lebenslage den Fokus zu stark auf mein Innenleben richte, sprich unangenehme Gedanken und Gefühle, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es mir schlechter geht und ich schlechter in der Lage bin, mich um mein Leben zu kümmern. In diesen Phasen wäre den Menschen zu wünschen, dass sie sagen könnten: Es gibt immer wieder Momente und Phasen im Leben, in denen ich mich nicht wohl fühle. Am besten versuche ich, da hindurch zu gehen, dann wird sich mein Gefühlsleben auch wieder normalisieren. 

„Nicht mit dem Innenleben kämpfen – da verlieren wir immer“

Das klingt kontraintuitiv. Wenn ich achtsam mit mir umgehe, dann soll ich doch eben auf meine Gedanken und Gefühle achten?

Das stimmt, Gefühle sind dafür gemacht, um Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn unser Innenleben sich meldet, ist es gut, sich darum zu kümmern. Aber was heißt das genau? Wenn ich Angst bekomme, weil ich Corona haben könnte, ist es gut zu überlegen, ob ich nicht einen Test mache und ein Treffen mit einer älteren Person erstmal absage. Da kann ich aktiv etwas tun. Aber oft gibt’s nichts zu tun. Ich habe so viele Workshops geführt und bin vor neuen Seminaren trotzdem immer aufgeregt und angespannt – in diesem Fall bringt es mir aber nichts, mir einen Kopf zu machen und mich zu fragen, ob ich zum Beispiel etwas übersehen habe. Wenn ich mich vorbereitet habe, ist es viel besser, einen netten Feierabend zu verbringen. Die Aufmerksamkeit auf das eigene Unwohlsein zu richten ist in solchen Fällen unsinnig. 

Sprich: Nicht reinhängen. Aber manchmal ist es leichter gesagt als getan. 

Natürlich. Es geht ja auch nicht darum, perfekte Menschen zu werden. Manchmal hat man einen schlechten Tag oder eine schlechte Woche. Aber man sollte es dann nicht noch schlimmer machen. Wenn ich zum Beispiel merke: Ich kann nicht schlafen, weil mich etwas beschäftigt – nicht auch noch mit dem fehlenden Schlaf hadern oder mich ärgern, lieber das Beste daraus machen und zum Beispiel etwas lesen. Vielleicht nicht gerade die neuesten Corona-Nachrichten, sondern etwas Angenehmes. Und es dann später nochmal mit dem Einschlafen versuchen. Das ist besser als mit dem Innenleben zu kämpfen – da verlieren wir immer. Glücklicherweise können wir uns ja von Gedanken distanzieren und zum Beispiel eine gute Unterhaltung führen, auch wenn wir gerade nicht gut drauf sind. Die richtigen Schwierigkeiten entstehen erst, wenn ich sage: Diese Gedanken und Gefühle dürfen nicht sein, erst wenn ich mich gut fühle, kann ich mein Leben leben. Zum Beispiel: Erst muss meine Prüfungsangst weg, dann kann ich in die Prüfung gehen. 

Stichwort Angst. Wir haben vorhin über Panikattacken gesprochen: Heißt es, man soll sie einfach akzeptieren? 

Angst zu akzeptieren ist grundsätzlich erst einmal besser, als aufgrund von Ängsten zusätzlich zu grübeln oder zu hadern. Nehmen wir das Beispiel Prüfungsängste. Wenn jemand nicht gelernt hat, ist es gut, dass sich ein Angstgefühl meldet: Dann sollte man sich tatsächlich hinsetzen und lernen, statt sich Sorgen über die Prüfung zu machen oder über die Angst zu grübeln. Wenn man allerdings vorbereitet ist, gibt es nichts weiter zu tun. Man kann sich also sagen: Menschen haben Ängste. Gibt es etwas zu tun oder nicht? Vielleicht werde ich immer ein etwas aufgeregterer Mensch sein als andere, aber ich mache die Situation nicht noch schlimmer als nötig. Dann bekomme ich vor der Prüfung wahrscheinlich wieder Angst, aber wenn ich merke, die erste Aufgabe kann ich, dann kann ich mich trotz meiner Angst konzentrieren und mein Wissen abrufen. Der Volksmund kennt dieses Grundprinzip: „Mach dir nicht so viele Gedanken!“ 

Okay, wenn es nichts zu tun gibt, einfach akzeptieren. Und wenn man doch merkt: Ich möchte etwas ändern? 

Dann gilt es einen guten Plan zu machen, wie ich hoffentlich meine Ziele erreichen kann. Davon sollte ich mich dann auch von meinen spontanen Gedanken und Gefühlen nicht abbringen lassen. 

Was hilft da? 

Kurz innehalten und Distanz zu den eigenen Gedanken einnehmen. Das kann man trainieren und auf die jeweiligen inneren Trigger anwenden. 

Die da wären? 

Gedanken, Vorstellungen oder Gefühle, die im ersten Moment „aufploppen“. Zum Beispiel bei der Prüfungsangst: „Oh je, geht das (also die Angst) wieder los?“ Dann folgt ein Handlungsimpuls, zum Beispiel sich mit dem Handy ablenken, um das Thema Prüfung aus dem Kopf zu bekommen. Hier kann man neue Wege gehen: „Vielen Dank, liebes Gehirn, aber das mache ich heute anders. Auch wenn ich mich nicht danach fühle, wird jetzt 45 Minuten gelernt und dann gibt es eine Handyspielpause!“ Unsere Abläufe auf der mentalen und auf der Handlungsebene sind zwar oft eingeschliffen. Ich kann sie aber unterbrechen und dann verändern. Nur weil der Kopf etwas sagt, muss ich das noch lange nicht genauso machen. Ich kann immer noch frei bestimmen!

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