Sie fehlen nahezu überall: Die Arbeitskräfte. Am meisten im Öffentlichen Dienst, im Handwerk und im sozialen Bereich, aber selbst in MINT-Berufen bleiben immer öfter Stellen unbesetzt. Und immer öfter lassen sich Fachkräfte nicht einmal mit mehr Gehalt ködern. Was ist nur passiert?
Arbeit und wir, das war mal eine starke, eine klar definierte Beziehung. Sie füllte das Portemonnaie und gab uns zu tun. Sie verlieh uns einen Status. Sie definierte uns. Dafür opferten wir ihr über 70 Prozent unserer Woche. Wir machten bezahlte und unbezahlte Überstunden, wir trugen den Stress-Nimbus stolz um unser Haupt, wir nannten sie „Traumjob“ und sahen in ihr den Sinn unseres Lebens. Aber irgendwo zwischen Banken-Krise und Corona-Krise, Klimawandel und Krieg, Gen Y und Gen Z – ist in dieser Beziehung eine Flaute entstanden.
Nun machen wir in Massen Schluss. Unter dem Hashtag #QuitTok und #quitmyjob filmen sich die Menschen beim Kündigen. Die „Antiwork“-Bewegung wird immer populärer. Wir praktizieren Quiet Quitting. Statt Traumjobs reden wir immer öfter über „Bullshit-Jobs“. Man munkelt sogar, dass die Frage „Und was machst du so beruflich?“ auf so manchen Partys gar nicht mehr als guter Eisbrecher taugt.
Warum kündigen Menschen?
Du hast bestimmt bereits von „The Great Resignation“ gehört – der großen Kündigungswelle in den USA, von der einige Expert:innen erwarten, dass sie auch nach Deutschland überschwappt. Wie groß sie tatsächlich ausfällt, weiß natürlich niemand. Doch eins ist offensichtlich: Die Anforderungen an die Arbeitgeber ändern sich. Die Kündigungsbereitschaft steigt, die Mitarbeiterbindung nimmt ab. Die Babyboomer verabschieden sich allmählich aus der Arbeitswelt – und die Jüngeren stellen die HR-Abteilungen vor einige Schwierigkeiten.
Und warum kündigen die Menschen? Neben zu niedrigen Gehältern und fehlenden Entwicklungschancen nannten die Teilnehmenden einer Umfrage des Pew Research Center vor allem zwei Gründe: Wertschätzung und Flexibilität. Mit anderen Worten: Sie wollen ein menschliches Arbeitsklima und Arbeitszeiten, die in ein modernes Leben passen.
Mit Stress umgehen: „Raus aus dem Kopf, rein in die Realität“
Stress ist ganz normal, sagt addisca-Trainer Winfried Lotz-Rambaldi. Wie können wir besser damit umgehen und uns effektiver erholen? Winfried sagt: Indem wir uns fokussieren – und eine neue Beziehung zu unseren Gedanken entwickeln.
Deutsche Studien zeigen ein ähnliches Bild. Flexible Arbeitszeiten und Homeoffice gehören inzwischen zu den Standard-Anforderungen. Ohne die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten, würden vier von zehn Kandidat:innen einen Job gar nicht erst annehmen, so eine groß angelegte Studie der Universität Bamberg. Rund die Hälfte aller Beschäftigten würde gern in Teilzeit wechseln, zeigt die HDI Berufe-Studie 2022, über 75 Prozent plädieren für die Vier-Tage-Woche. Am lautesten dabei, mal wieder: die Unter-Vierzigjährigen. Jede:r vierte von ihnen würde dafür auch für einen Teil des Gehalts verzichten.
Auch vor der Pandemie waren die Gründe ähnlich. Nehmen wir eine Statista-Umfrage von 2018. Neben Überstunden waren die häufigsten Kündigungsgründe: ein schlechtes kollegiales Umfeld sowie Stress und Überlastung. Kein Wunder, denn der Job gehört zu den stärksten Stressoren des modernen Lebens.
Gesundes Arbeiten wird immer wichtiger
Wertschätzung und Flexibilität: Das sind die zwei Faktoren, die immer häufiger darüber entscheiden, ob jemand geht oder bleibt. Und ein dritter Faktor, insbesondere seit der Pandemie: Gesundheit.
Gerade in der Coronazeit, als wir kollektiv auf einen Stopp-Knopf gedrückt haben und Zeit hatten, uns wichtige Fragen zu stellen, scheint vielen klar geworden zu sein, dass sie sich nicht länger für den Job aufreiben wollen. Besonders betrifft es die Berufseinsteiger:innen. Sieben von zehn Kandidat:innen finden BGM-Maßnahmen entscheidend für die Attraktivität eines Unternehmens – ebenfalls Uni Bamberg.
Auch die Arbeitgeber investieren immer häufiger in gesunde Arbeitsbedingungen. Chronischer Stress ist schließlich schlecht für die Bilanzen. Wer oft gestresst ist, ist natürlich auch anfälliger für physische und psychische Krankheiten, von Rückenschmerzen bis zu Depressionen. Das erhöht den Krankenstand und senkt die Produktivität. Wer sich auf der Arbeit nicht wohlfühlt, sei es, weil die Arbeitsbedingungen krankmachen oder das Arbeitsklima stresst – wird auch häufiger kündigen.
Und in Zeiten von Fachkräftemangel kann das zu dauernder Unterbesetzung führen, die wiederum zu Überlastung und noch mehr Ausfällen führt – und auf Dauer noch mehr kostet, als durch Personalmangel womöglich eingespart wurde.
Okay, und was kannst Du konkret tun, um gesunde und wertschätzende Bedingungen herzustellen? Fünf Tipps für den Anfang:
1. Gesundheit ist Führungssache
Führungskräfte nehmen ihren Krankenstand mit – wie zahlreiche Studien seit 2001 zeigen. Auch in stressigen Jobs ist das Verhalten der Führungskraft entscheidend dafür, ob die Menschen sich gefordert oder überfordert fühlen – und letzteres kann auf Dauer zu Burnout führen. Mit schlechter Führung steigt zudem das Risiko für psychosomatische Beschwerden und sogar Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die BGM-Trendstudie der TK „#whatsnext“ zeigt: Die Beschäftigten legen großen Wert auf das Engagement ihrer Vorgesetzten. Deshalb lohnt es sich, in Mentaltrainings für Führungskräfte zu investieren. Was zur gesunden Führung dazu gehört, darüber schreiben wir hier etwas ausführlicher: Gesund führen: So geht’s.
2. Wertschätzung beginnt beim Onboarding
Dauergestresste Teams sind nicht gerade zu Höchstleistungen motiviert. Deine Mitarbeiter:innen sollten sich wertgeschätzt fühlen und keine Angst haben, für Fehler oder Fragen bestraft zu werden. Das alles nennt sich psychologische Sicherheit. Idealerweise zeigt sie sich schon im Onboarding. Mehr dazu: Hier.
3. Feedback, nett und oft
Eine Maßnahme, die nichts kostet: Häufiges, wertschätzendes Feedback. Davon gibt es meist viel zu wenig, zum Leidwesen der Angestellten. Um konstruktive Feedback-Gespräche zu führen, gehört natürlich die richtige Haltung und ein wenig Fingerspitzengefühl – ein kleiner Leitfaden für alle Feedback-Gebenden: Hier.
4. Stressprävention, aber richtig
Wir vergessen oft: Prävention beginnt im Kopf. Auch im Arbeitsleben kommen wir nicht um Stress herum – wichtig ist, wie wir damit umgehen. Und das hängt nachweislich von unseren metakognitiven Fähigkeiten ab. Wenn Mitarbeitende nicht gut abschalten können, zu wenig Pausen machen, ihre Entscheidungen anzweifeln oder zu lange für die Aufgaben brauchen, weil sie sich nicht gut fokussieren können, drückt das natürlich auch die Produktivität und kann sich schlecht auf das Arbeitsklima auswirken. Mentaltrainings können helfen, Überlastung zu vermeiden und die eigenen Ressourcen besser einzusetzen. Mehr dazu: Hier.
5. Gesunde Arbeitsbedingungen als Basis, nicht „on top“
Erfolg ist nur mit gesunden Menschen möglich, deswegen sollte die Gesundheit von Anfang an eine Rolle spielen. Können die Leute konzentriert arbeiten? Müssen sie täglich zu tausenden Meetings? Haben sie bequeme Tische und Stühle? Werden sie nach Feierabend angerufen? Ist das Workload realistisch? Eine gesunde Fehlerkultur und ein wertschätzendes, nettes Miteinander sind unerlässlich für gute, produktive Zusammenarbeit. Ein erster Schritt wäre natürlich: Die Mitarbeitenden selbst zu fragen, was ihnen fehlt und was ihnen beim Arbeiten helfen würde – meist wissen sie am besten Bescheid 🙂
Gesundheit wird immer wichtiger
Die Forderungen nach gesunden Arbeitsbedingungen werden immer lauter – sich körperlich und psychisch für den Job zu verausgaben wird in Zeiten von Fachkräftemangel und Quiet Quitting immer unpopulärer. Natürlich braucht Mitarbeitergesundheit durchdachte Strukturen und Rahmenbedingungen. Aber mit Wertschätzung und ein wenig Mühe ist bereits viel getan. Idealerweise zeigt sich gesundes Arbeiten bereits beim Onboarding.
Was macht gutes Onboarding aus?
- Klare Kommunikation zum Thema Arbeitszeiten: Homeoffice-Tage, Gleitzeit, Flexibilität – deutlich machen, dass Bedürfnisse der Mitarbeitenden möglichst berücksichtigt werden.
- Ergonomische Arbeitsausstattung, die Möglichkeit in Ruhe zu arbeiten.
- Betriebssport, Stresstrainings und andere Präventionsmaßnahmen sollten von Anfang an angeboten werden – ähnlich wie die obligatorische Datenschutz-Schulung.
- Ehrliche und offene Kommunikation sowie echtes Interesse statt PR-Sprache.
- Es ist wichtig, den Neuen zu signalisieren, dass sie Fragen stellen können und für Fehler oder Unwissen nicht bestraft werden.
- Kommunikation realistischer Erwartungen, was Workload betrifft.
- Häufiges, wertschätzendes Feedback – und zwar von beiden Seiten. Die Neuen bringen einen unbefangenen Blick mit, der wichtige Impulse geben kann.
Der aktuelle addisca Report 2023 befasst sich mit der Akzeptanz und Wirksamkeit von Maßnahmen zur psychischen Gesundheitsfürsorge in deutschen Unternehmen
Was kostet Fluktuation?
Stellen wir uns vor: Martin aus der Buchhaltung (35 Jahre, 45.000 Brutto/Jahr) kündigt am 1. Mai seinen Job, da ihm der Stress zu viel geworden ist.
Die Kündigungsfrist beträgt 3 Monate. Seine Arbeitsleistung in den letzten drei Monaten sinkt schätzungsweise um 30 %. Auch der gedankliche Prozess bis zur Kündigung hat Martin viele Nerven gekostet – gehen wir davon aus, seine Produktivität büßte in dieser Zeit 20 % ein.
Allein dieser Produktivitätsverlust kostet das Unternehmen schätzungsweise 4875 €.
45000/12*3*0,3=3375
45000/12*2*0,2= 1500
= 4875 €
Das Unternehmen sucht nun eine:n Nachfolger:in. Schätzen wir die Recruitingkosten auf 3000 €.
4875 + 3000 = 7875 €
Martins Nachfolgerin Barbara startet zum 1. August. Selbes Alter, selbes Gehalt – von so viel Gleichberechtigung gehen wir einfach mal aus 😉
Wir rechnen mit drei Monaten Onboarding, in denen Barbara zunächst in sämtliche Prozesse eingearbeitet wird. Ihre Produktivität liegt in dieser Zeit bei etwa 50 %. Das macht etwa 5625 €. Den Zeitaufwand der Kolleg:innen, die sie arbeiten, lassen wir mal außen vor.
So ergeben sich für das Unternehmen rechnerisch Kosten in Höhe von 13.500 €.
7875 + 5625 = 13.500€
Was diese Rechnung nicht berücksichtigt: Der administrative Aufwand, den das Unternehmen hat. Und die Teamdynamik, die stark leiden kann. Und natürlich könnte es weitere Mitarbeitende wie Martin geben, die innerlich gekündigt und sich bald nach etwas Neuem umschauen – diese Rechnung kannst Du selbst weiterführen 😊